Reisen und Ausflüge
Wildgänse auf Winterurlaub
ml · 17.04.2024
Blässgänse von Nahem. Foto: www.wildes-ruhrgebiet.de
Im Bus herrscht erwartungsvolle Stille. Der Fahrer ist im Gebiet der Düffel am Niederrhein nahe der niederländischen Grenze unterwegs. Mit von der Partie sind Ehepaare, Großeltern mit Enkeln und Alleinreisende.
Sie alle haben sich zu einer Exkursion angemeldet, die der NABU, der Naturschutzbund Deutschland, an diesem Sonntag durchführt. Regelmäßig ab November finden diese Ausflüge statt, die in Kleve starten.
Der Bus fährt durch grünes Gelände, Wiesen, abgeerntete oder frisch eingesäte Felder. Büsche, Bäume und Wälder ziehen am Fenster vorbei. In der Ferne sieht man die Umrisse einer Hügelkette. Gespannt halten die Reisenden Ausschau: Sie sind heute auf „Gänsepirsch“.
Da – in einiger Entfernung zeigt sich ein langer grau-brauner Streifen, und er ist voller Bewegung. Die ersten Gänse! Es mögen wohl hundert oder zweihundert sein.
Plötzlich wird der Bus von lebhaftem Stimmengewirr erfüllt. Finger zeigen hierhin und dorthin, Kinder springen von ihren Sitzen, Erwachsene recken die Hälse. Große Gruppen Gänse überall. Sie äsen auf den grünen Wiesen ringsum.
Besucher mit und ohne Kamera kommen während der Führungen nah an die Gänse heran, ohne diese aufzuschrecken oder zu stören. Foto: Peter Schmidt, Neuss
Was viele nicht wissen: Nicht jede Gans ist gerade erst angereist. Ganzjährig leben am Niederrhein Graugänse, die einzige einheimische Art, sowie Kanada- und Nilgänse. Deren Namen verraten schon, dass sie hier eigentlich nicht hingehören.
Dieter Lütticken, Tierarzt und Gänseexperte beim NABU, erläutert:
„Es gibt 15 Gänsearten, je nachdem, welche man als Unterart ansieht. Alle Kanadagänse, die hier leben, sind Nachfahren von Zoo-Flüchtlingen oder sind aus privaten Tierparks ausgebüxt. Weite Areale, auch schon in Wohngebieten, haben sich die Nilgänse erobert. Sie sind die Exoten unter den Gänsen. Auch sie haben irgendwann mal Schlupflöcher in einem Winterurlaub Zoo-Gehege gefunden und die Chance zur Freiheit ergriffen. Sie wissen ihre Reviere zu verteidigen.“
Sie alle brüten hier und ziehen ihre Jungen auf. Seit in den 1960er Jahren die Landwirtschaft intensiviert wurde und auch die Zahl der Kiesgruben wuchs, finden sie hier immer bessere Lebensbedingungen.
Das schätzen auch die Bläss-, Weißwangen- und Saatgänse. Doch sie schauen nur vorübergehend vorbei. Dann schnellt die Zahl der Gänse von rund 3.000 auf über 200.000 Exemplare hoch.
Nahrungsangebot und Klima sind optimal
Lütticken weiß, warum die arktischen Wildgänse seit mehreren Jahrzehnten in immer größerer Zahl hierherkommen:
„Wir können davon ausgehen, dass sich diese Zugvögel je nach Nahrungs- und Klimabedingungen stets das beste Gebiet für ihre jeweilige Lebensphase aussuchen, und das sind eben die Niederungen an Rhein und Maas mit ihren Nebenflüssen. Außerdem haben wir hier sehr milde Winter. Entsprechend finden die Gänse hier ein üppiges Angebot an Futter. Die Tiere fressen Gras und Kräuter.“
Häufig lässt sich beobachten, dass sich die Gänse auf einer bestimmten Wiese niederlassen, dort dürfte der Eiweißgehalt des Grases besonders hoch sein. Was die Landwirte für ihre Rinder bevorzugen, schmeckt den Gänsen offenbar auch. Woran die Tiere aber das wertvollere Gras erkennen, weiß man nicht.
Weiden säumen am Niederrhein häufig die Wiesen, wo Bläss- und anderen Gänsen der Tisch reich gedeckt ist. Foto: www.schwark-foto.de
Fakt ist nur: Die Bauern sind von dieser Fresskonkurrenz nicht angetan. Denn den Gänsen sind, um satt zu werden, auch Getreidefelder willkommen. Dabei richten sie große Schäden an, da die Felder im Winter bereits eingesät sind. Die betroffenen Landwirte in Nordrhein-Westfalen erhalten jährlich rund sechs Millionen Euro als Ausgleich – für die Schäden am höherwertigen Wintergetreide erhalten sie mehr als für Gras der Wiesen.
Dabei spielen auch die beträchtlichen Hinterlassenschaften der Gänse eine Rolle, denn Äcker und Wiesen werden auch noch überdüngt. Gründe genug also für die Entschädigung.
Lernen, wo es am Himmel langgeht
Für diesen „gedeckten Tisch“ nehmen jährlich zigtausend Bläss-, Weißwangen-, Tundrasaatgänse und andere Arten den gut 6.000 Kilometer langen Flug auf sich. Er ist für sie besonders kräftezehrend, da sie die ganze Zeit mit den Flügeln schlagen müssen. Denn anders als andere Zugvögel sind sie schlechte Segler und können nicht durch warme Luftschichten hervorgerufene Aufwinde nutzen. Lütticken:
„Sie können bis zu 60 Kilometer pro Stunde fliegen, und bis zu 1.000 Kilometer am Stück in der Luft bleiben. Für die 6.000 Kilometer hierher brauchen sie zwei bis drei Monate. Das heißt also: Die Gänse brechen bereits im August auf, um im Oktober hier anzukommen. Sie rasten entlang der Barentsee, in den baltischen Staaten bzw. an deren Küsten, fliegen dann über Mecklenburg-Vorpommern bis hierher.“
Allerdings wägen die Gänse ab, wann sie in den Westen starten. Finden sie vor Ort noch genügend Futter, nutzen sie dieses bis zum Schluss, und erst dann geht es zu den neuen Weidegründen. Die Gänse kommen aus ihren Brutgebieten zum Beispiel der sibirischen Insel Kogulev und der Halbinsel Taymir nördlich des Polarkreises.
Die Jungen schlüpfen im Juni, wenn die Bedingungen, sie großzuziehen, am besten sind. Denn im arktischen Sommer ist es 24 Stunden lang hell, und die Schwärme eiweißreicher Moskitos garantieren, dass die Jungtiere rasch wachsen.
Bis zum Ende des arktischen Sommers sind sie ausgewachsen und können mitfliegen. Dabei müssen sie sich die Flugroute einprägen. Damit unterscheiden sie sich beispielsweise von Störchen, bei denen die Vogelzugroute genetisch festgelegt ist.
Lesen Sie auf Seite 2: Warum Gänse nahe am Wasser siedeln
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